Geschichte der Schweizer Neutralität
Die Eidgenossenschaft war in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens alles andere als neutral. Sonst wäre sie ja gar nicht entstanden. Die Geburtsstunde der Neutralität war der Dreissigjährige Krieg (1618-1648). Die Tagsatzung wollte aus innenpolitischen Gründen verhindern, dass die politisch und konfessionell fragile Schweiz in den Krieg verwickelt würde. Zum Schutz der Grenzen schuf die Tagsatzung 1647 in Wil mit dem «Defensionale» zum erstenmal eine gesamteidgenössische Landesverteidigung, quasi den Vorläufer der Schweizer Armee.
In den 150 Jahre vor der Französischen Revolution gelang es der Eidgenossenschaft, sich aus allen europäischen Kriegen herauszuhalten. Die verfeindeten Nachbarn respektierten die Neutralität in ihrem eigenen Interesse.
Mit der Besetzung der Schweiz durch Frankreich ging 1798 die Alte Eidgenossenschaft und mit ihr die alt-eidgenössische Neutralität unter; die Schweiz wurde zum Satelliten Frankreichs. Die Stunde der Befreiung kam mit der Niederlage Napoleons. Die Schweiz versuchte alles, um von den antinapoleonischen Grossmächten (Österreich, Preussen, Russland, Grossbritannien) die Anerkennung ihrer selbst gewählten Neutralität zu bekommen. Diese scherten sich jedoch nicht um die Neutralität und marschierten um die Jahreswende 1813/14 mit ihren Armeen allen Protesten der Tagsatzung zum Trotz durch die Schweiz.
Der Wiener Kongress versprach der Schweiz, die Neutralität formell anerkennen zu wollen. Aber erst am 20. November 1815 auf dem 2. Pariser Friedenskongress wurde die Neutralität der Schweiz von den Grossmächten anerkannt. Dieses Dokument gilt bis heute als völkerrechtliche Basis der Neutralität. Der Schweiz wurde die Neutralität nicht «auferlegt», wie eine neuere Legende behauptet, sondern von der Tagsatzung, dem obersten Organ der Eidgenossenschaft, schon ein Jahr vor dem Wiener Kongress beschlossen worden.
Bei der Gründung des Bundesstaats 1847/48 stellte sich die Frage, ob und wie die Neutralität in der neuen Bundesverfassung zu verankern sei. Die Verfassungsväter kamen zum Schluss, dass die Neutralität «kein konstitutioneller und politischer Grundsatz sei, der in eine Bundesverfassung gehöre, indem man nicht wissen könne, ob derselbe nicht einmal im Interesse der eigenen Selbstständigkeit verlassen werden müsse… Die Neutralität sei ein Mittel zum Zweck…, um die Unabhängigkeit der Schweiz zu sichern.» So hielten es auch die Bundesverfassungen von 1874 sowie 1999.
Die Neutralität ist also seit 1848 sehr wohl in der Bundesverfassung verankert, aber ihre Umsetzung wird den obersten Bundesbehörden überlassen. Die hängige «Neutralitätsinitative» aus der nationalkonservativen Ecke ist daher keine Rückkehr zur «traditionellen Neutralität», sondern im Gegenteil ein Bruch mit der schweizerischen Neutralitätstradition.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchte man den Krieg in völkerrechtlichen Verträgen zu domestizieren. Auf zwei internationalen Konferenzen in Den Haag wurden 1899 ein erstes und 1907 ein zweites «Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs» ausgehandelt. Diese Konventionen basierten noch auf dem älteren, heute völkerrechtlich verbotenen «Recht auf Krieg», dem Recht eines jeden Staates, Krieg führen zu dürfen, egal ob als Aggressor oder als Verteidiger. Neben 40 weiteren Staaten trat die Schweiz dem Haager Abkommen (oder Haager Konvention) bei. Die Schweiz hat sich damit aber nicht zur Neutralität verpflichtet, sondern nur die Pflichten und Rechte der Kriegführenden und Neutralen anerkannt.
Die Schweiz wendet noch heute als einziges Land dieses Abkommen aus dem Zeitalter des Imperialismus an und Kolonialismus an. Heute problematisch und völkerrechtlich verboten ist die Gleichbehandlung von Aggressor und Opfer bei der Ausfuhr von Rüstungsgütern. Die Haager Konvention gestattete ausdrücklich den freien Rüstungsexport an Kriegführende aus privater Produktion, verpflichtete aber den Neutralen bei Einschränkungen des Waffenexports, beide Kriegsparteien gleich zu behandeln. Die Schweiz wendet das inzwischen völkerrechtlich hinfällige Gleichbehandlungsgebot immer noch an, wie etwa die Ukraine-Verordnung belegt.
Im internationalen Rahmen scheiterte die Haager Konvention grandios. Der Erste Weltkrieg setzte dem Recht auf Krieg ein Ende. Die spätantike und mittelalterliche Lehre vom «Gerechten Krieg» war wieder zurück und wurde ab 1920 durch den Völkerbund weiterentwickelt. 1928 erfolgte ein eigentlicher Donnerschlag: Im Briand-Kellog-Pakt ächteten 62 Staaten, darunter auch die Schweiz, den Angriffskrieg. Es gab nun wieder Täter und Opfer und diese durften nicht mehr gleich behandelt werden. Das Gleichbehandlungsgebot war aufgehoben.
Im Zweiten Weltkrieg wurden fast alle neutralen Staaten Europas von den Achsenmächten oder der UdSSR besetzt – nicht aber die Schweiz. Die Schweiz lavierte geschickt zwischen Alliierten und Achsenmächten, wurde aber in erster Linie aus geostrategischen und militärischen Gründen nicht angegriffen. Sie war bewaffnet, bot den militärischen Operationen der Kriegführenden Flankenschutz und war Puffer zwischen den Achsenmächten und den Alliierten, aber auch zwischen den «Verbündeten» Deutschland und Italien. Es war vor allem Italien, das unter keinen Umständen die Deutschen auf dem Gotthard oder gar in Chiasso wollte.
Nach 1945 verfolgte die Schweiz aus der Erfahrung des militärisch weitgehend verschont gebliebenen Staats eine mythisch überhöhte Neutralitätspolitik. Auch die UNO-Charta von 1945, mit seinem Gewaltverbot änderte nichts daran. Die Schweiz klammerte sich weiterhin an die überholte Haager Konvention. Erst mit der Wende von 1990 geriet die Neutralität in Bewegung. Sie wurde in der Neutralitätskonzeption von 1993 auf den militärischen Kern reduziert. Bundesrat und Parlament versäumten es aber, eine Neutralität für das 21. Jahrhundert zu entwickeln.
Mit dem Festhalten am Artikel 9 der Haager Konvention von 1907 (Gleichbehandlungsgebot) hat sich die Schweiz in eine aussen- und sicherheitspolitische Sackgasse manövriert. Sie sabotiert damit Art. 51 der UNO-Charta. Dieser gibt neben dem Sicherheitsrat nur dem Opfer einer Aggression das Recht auf Krieg und erlaubt allen Staaten – auch den Neutralen -, dem Opfer, nicht aber dem Aggressor, beizustehen. Der Bundesrat und vor allem das Parlament praktizieren eine Neutralität, die dem heutigen Völkerrecht nicht entspricht, die Schweiz international isoliert und ihr sicherheitspolitisch schadet. Das zeigt sich exemplarisch an der Ukraineverordnung, welche das Opfer Ukraine auf die gleiche Stufe stellt wie Russland und damit (wenig neutral) dem militärisch überlegenen Aggressor hilft.
Problematisch an der schweizerischen Neutralität ist die Vorstellung, dass die Neutralität ein völkerrechtliches Institut sei. In Tat und Wahrheit ist es – wie schon die Verfassungsväter von 1848 erkannt hatten – ein aussenpolitisches und ein sicherheitspolitisches Instrument im Interesse der Schweiz. Die Neutralitätspolitik muss sich an der UNO-Charta (dem heute weltweit gültigen Grundgesetz der internationalen Beziehungen), den davon abgeleiteten völkerrechtlichen Verträgen, den aussenpolitischen Zielen der Bundesverfassung und den Sicherheitsinteressen unseres Landes orientieren.
Marco Jorio, August 2025
Autorentext:
Marco Jorio, Dr. phil., ist Historiker und unter Anderem Autor von “Die Schweiz und ihre Neutralität - Eine 400-jährige Geschichte” vom 30.04.2023. Von 1988 bis 2014 war er Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz (HLS). Er forscht und publiziert zu den Aussenbeziehungen der Schweiz im Ancien Régime, zum Fürstbistum Basel, zum Schweizer Katholizismus und zur Militärgeschichte.